Der erste Eindruck zählt. Leider.

19. Mai 2025

Soziale Wahrnehmung

Im Ergänzungsfach Psychologie haben wir uns mit der sozialen Wahrnehmung beschäftigt. Soziale Wahrnehmung ist ein wichtiger Bestandteil unseres täglichen Lebens und beschreibt verschiedene Prozesse, wie wir Informationen über andere Personen aufnehmen, interpretieren und schlussendlich ein Urteil über den jeweiligen Menschen gelangen. Diese Urteile betreffen meist ihre Eigenschaften, Absichten oder Emotionen. Ohne soziale Wahrnehmung ist es schwierig, mit anderen Menschen zu kommunizieren, Beziehungen aufzubauen oder soziale Gruppen zu bilden.

Um andere Menschen wahrzunehmen, greift unser Gehirn auf eine Vielzahl von Informationen der anderen Person zurück. Zum Beispiel auf nonverbale Signale, wie Mimik, Gestik, Tonfall und äusseres Erscheinungsbild. Doch unser Bild einer anderen Person ist nicht nur rein objektiv geprägt, sondern wird auch durch unsere Erfahrungen, Erwartungen und unsere unbewussten Denkmuster geprägt.

Ein wesentliches Merkmal der sozialen Wahrnehmung ist ihre Schnelligkeit. Wir bilden uns in wenigen Sekunden einen ersten Eindruck von jemandem. Dieser erste Eindruck entsteht automatisch, und wir können nicht wirklich kontrollieren, wie dieser aussieht. Gleichzeitig zeigt sich, dass dieser erste Eindruck oft sehr lange anhält und unser Denken über eine Person sehr stark beeinflusst. Dies geht so weit, dass, selbst wenn neue widersprüchliche Informationen dazu kommen, der erste Eindruck immer noch präsent ist. Dieser Effekt wird als Primäreffekt bezeichnet.

Ein weiteres Phänomen ist die sogenannte implizite Persönlichkeitstheorie. Diese Theorie sagt aus, dass wir glauben, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale würden typischerweise gemeinsam auftreten. So tendieren wir dazu, einer freundlichen Person automatisch auch Nettigkeit, Ehrlichkeit oder Hilfsbereitschaft zuzuordnen, obwohl wir sonst nichts über die Person wissen.

Diese beiden Effekte, Primäreffekt und implizite Persönlichkeitstheorie, können dazu führen, dass wir Menschen vorschnell in Schubladen stecken, ihnen bestimmte Eigenschaften zuschreiben oder sie gar unfair behandeln, ohne dass wir dies eigentlich wollten. Umso wichtiger ist es, Wege zu finden, diese Wahrnehmungsverzerrungen zu erkennen und bewusst mit ihnen umzugehen. Im folgenden Abschnitt möchte ich daher untersuchen, wie sich der Primäreffekt und die implizite Persönlichkeitstheorie im Alltag reduzieren oder zumindest abschwächen lassen

Ansätze um die Effekte zu verringern

Ich habe nun dargestellt, dass diese beiden Effekte zwar auch positive Aspekte besitzen, aber es für ein gemeinsames zusammenleben nützlich ist, wenn diese Effekte verringert werden. Ich möchte jetzt drei Ideen vorstellen, wie man diese Effekte verringern könnte.

1. Bewusstsein und Reflexion

Oft beginnt eine Veränderung mit Bewusstheit. Der erste Schritt zur Besserung, ist sich dieser Effekte überhaupt bewusst zu sein. In vielen Situationen urteilen wir, ohne zu hinterfragen, wie unser Eindruck zustande kam. Und da lohnt es sich zu fragen, was denn meinen Eindruck geprägt hat, oder ob mein Urteil über diese Person falsch sein könnte, da ich die Person noch nicht einmal richtig kennengelernt habe.

Und dies sollte dazu führen, dass man sich vielleicht überlegt, dass die Person noch ganz andere Eigenschaften mit sich bringt, an die man bisher noch gar nicht gedacht hat und erst zum Vorschein kommen, wenn man sich etwas mit der Person auseinandersetzt.

2. Perspektivenwechsel vollziehen

Ein wirksames Mittel gegen voreilige Urteile ist das gezielte Einnehmen anderer Perspektiven. Sich einmal in die Perspektive eines anderen hineinzuversetzen und nachzudenken, wie man die Menschen unterschiedlich wahrnehmen kann und wir vielleicht die andere Person mit einer falschen Perspektive betrachten.

Zum Beispiel kann eine zurückhaltende Person in einer Gruppe zunächst als unbeteiligt oder desinteressiert wahrgenommen werden. Doch wenn man ihre Perspektive einnimmt, erkennt man vielleicht Unsicherheit, Beobachtungsgabe oder Respekt vor anderen Redebeiträgen. Solche Perspektivwechsel trainieren Empathie und reduzieren die Tendenz, andere vorschnell zu bewerten.

3. Übung mit Gegenbeispielen

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, gezielt Gegenbeispiele zu suchen, die mit der eigenen impliziten Persönlichkeitstheorie nicht übereinstimmen. Wenn man z. B. glaubt, dass extrovertierte Menschen immer besonders kompetent sind, sollte man sich bewusst Menschen in Erinnerung rufen, bei denen das Gegenteil der Fall war.

Auch Medien, Filme oder Literatur können dazu beitragen, stereotype Vorstellungen zu hinterfragen, wenn vielfältige Charakterdarstellungen dargestellt werden. Vor allem im Jugendalter, wenn viele implizite Theorien noch formbar sind, können solche Impulse langfristige Wirkungen haben.

Der Umgang mit dem Primäreffekt und impliziten Persönlichkeitstheorien ist kein einfacher, aber ein wichtiger. Unsere Urteile über andere Menschen werden niemals vollkommen objektiv sein, doch wir können lernen, bewusster, reflektierter und gerechter zu urteilen. In einer zunehmend vielfältigen und vernetzten Gesellschaft ist dies nicht nur ein Zeichen von Respekt, sondern auch eine zentrale soziale Kompetenz.

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